Die Raffinesse der Primitiven

"Van Eyck bis Dürer": In Brügge zeigt eine prächtige Schau, wie sich die erstaunlich lebensecht wirkende Malerei der südlichen Niederlanden in Mittel- und Osteuropa ausbreitete


Die Kunstwissenschaft tituliert die während des 15. Jahrhunderts in den südlichen Niederlanden tätigen Maler als "Flämische Primitive". Das klingt nach Schlichtheit, Dürftigkeit und Unterentwicklung. Doch das Gegenteil ist der Fall! Denn die Flämischen Primitiven brachten eine raffinierte Malerei der augentäuschenden Wirklichkeitsillusion hervor. Und das von Anfang an "in erstaunlicher Vollkommenheit", wie Till-Holger Borchert urteilt.


Borchert ist Kurator einer prachtvollen Schau im Groeningemuseum von Brügge, die rund 300 Gemälde, Grafiken und einige wenige Skulpturen umfasst. Sie veranschaulicht uns die Qualitätsoffensive der niederländischen Malerei von 1420 bis 1520 und deren Wirkung auf die Kunst Mittel- und Osteuropas. Der neue Ehrgeiz in der Wirklichkeitswiedergabe erfasste berühmte Künstler wie den in Köln tätigen Stephan Lochner, den Augsburger Hans Holbein den Älteren und den im elsässischen Colmar geborenen Martin Schongauer. Doch die von den Flämischen Primitiven angestoßene künstlerische Revolution schlug Wellen bis nach Böhmen, Ungarn und Polen, wie die Schau mit kostbaren Gemälden zeigt.


Grundlage der als "Ars nova", also "Neue Kunst", bezeichneten Darstellungspraxis der Flämischen Primitiven war die Perfektionierung der Ölmalerei. Sie wurde in vielen durchscheinenden Schichten aufgetragen. Das ermöglichte die äußerst präzise Wiedergabe der Oberfläche von Dingen, seien es Brokatstoffe, Stein oder Glas. Damit eng verbunden war die detaillierte Wiedergabe von Spiegelungen, Lichtreflexen und der Brechungen des Lichts. Der Darstellung von Innenräumen und Landschaften, Menschen, Tieren und Pflanzen wurde eine zuvor nicht gekannte Lebensechtheit verliehen.


All das zeichnet in allergrößter Vollendung Jan van Eycks "Madonna des Kanonikers Joris van der Paele" (1434-1436) aus. Im Bildzentrum thront Maria, das Kind auf dem Schoß. Links steht im Bischofsornat der Heilige Donatian, rechts in funkelnder Rüstung der Heilige Georg. Der Drachentöter hat den Helm gezogen und weist auf den vor ihm knienden Kanoniker und Auftraggeber des Gemäldes, um ihn Maria und dem Jesusknaben zu empfehlen. Das Gemälde besticht durch die täuschend echte Wiedergabe der kostbaren Kleidungsstoffe und der Einrichtung des Raums. Als auffällig unbescheiden erweist sich Auftraggeber van der Paele: Alle Bildfiguren sind auf ihn bezogen. Aber er ist nicht gerade eitel: Der alte, füllige Herr bestand auf der getreuen Wiedergabe seiner markanten, faltigen Gesichtszüge. Er blickt ins Leere, denn Jan van Eyck zeigt eine lediglich durch die Gebetsandacht vor dem inneren Auge van der Paeles erstandene Vision.


Eine ähnliche Meisterschaft in der malerischen Erzeugung von Stofflichkeitsillusion zeichnet das von Heinrich von Werl, Vorsteher der Kölner Ordensprovinz der Minoriten, beim Meister von Flémalle in Auftrag gegebene Gemälde der "Heiligen Barbara" (1438) aus. Es gehört zu den frühesten Werke der flämischen Ars nova, die nach Deutschland exportiert wurden. Es ist einfach faszinierend, wie lebensnah das Feuer im Kamin flackert, eine Glasflasche und ihre durchsichtige Flüssigkeit wiedergegeben sind oder die Holzmaserung des Fensterladens dargestellt ist. Und dann erst die Heilige: Sie hält sich das fromme Buch auffallend dicht vor die Augen, weil sie offenbar schlecht sieht.


Der neue flämische Realismus wurde weiter östlich anfangs nur in einigen Bildpartien aufgegriffen. Aufs Schönste mischen sich Altes und Neues zum Beispiel in der von Johannes Koerbecke gemalten "Taufe Christi" (um 1470-1480). Das göttliche Himmelreich stellt der westfälische Meister nach althergebrachter Manier als punzierten Goldgrund dar. Im neuen Realismus gibt er hingegen die Landschaft, die Figuren - und vor allem die beiden detailliert beschriebenen Schwertlilien vorn in der Bildmitte wieder. Auch der bayerische Meister der Münchner Marientafeln setzte in der "Geburt Christi" (um 1450-1460) auf den traditionellen himmlichen Goldgrund. Ansonsten aber hat er niederländische Anregungen mit eigenständigen Erfindungen verknüpft. Mittels der Darstellung von Eiszapfen und Schnee ist er der erste, der in der Tafelmalerei veranschaulicht, dass die Geburt Christi im Winter geschah.


Neben frommen Szenen war der neue Realismus der Flämischen Primitiven bestens für die Porträtmalerei geeignet. Lebensechter als jedes Farbfoto wirken Rogier van der Weydens "Porträt des Philippe de Groy" (um 1460) und das von dem in Seligenstadt geborenen, in Brügge niedergelassenen Hans Memling gemalte "Bildnis eines betenden Mannes vor einer Landschaft" (um 1480-1485). Kurator Borchert erklärt: "Die Neuerungen der frühniederländischen Porträtmalerei sind für die Entwicklung der Bildniskunst in Europa von kaum zu unterschätzender Bedeutung." Das gilt auch für das Schaffen Albrecht Dürers, der das "Bildnis eines Mannes" (1521) während oder kurz nach seiner Reise in die Niederlande malte. Der Porträttypus und die feinmalerische Darstellung von Gesicht, Haar und Pelz verdanken sich Anregungen aus den südlichen Niederlanden. Doch Dürer geht über die dort gepflegte getreue Wiedergabe äußerer Ähnlichkeit hinaus. Seine neuartige Leistung besteht darin, dass er den Dargestellten mit deutlich ablesbaren Charakterzügen ausgestattet hat. Der strenge Blick und die zusammengekniffenen Lippen lassen auf ein energisches und tatkräftiges Wesen schließen.


Bis 30.1.2011 im Groeningemuseum, Dijver 12, Brügge. Di.-So. 9.30-18 Uhr. Informationen: +32 50444660. Der deutsche Katalog aus dem Belser Verlag kostet im Museum 39 Euro, im Buchhandel 49 Euro


Text: Veit-Mario Thiede, Goethestraße 100, 34119 Kassel, Tel: 0171-3860734, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


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