Kantige Märchenonkel

Von Aschenputtel bis Zypressenzweig: Die Wiedereröffnung des Kasseler Brüder Grimm-Museums wird mit neuer Dauerausstellung und einer Sonderschau gefeiert


Kassel bezeichnet sich gern als "Hauptstadt der Brüder Grimm". Denn dort verbrachten Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) nach eigener Einschätzung als Märchensammler und Begründer der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft "die arbeitsamste und vielleicht auch fruchtbarste Zeit" ihres Lebens. Dessen Stationen sind von der Geburt in Hanau bis zu ihrer letzten Wirkungsstätte Berlin im Kasseler Brüder Grimm-Museum dokumentiert.


Nach zweijährigen Sanierungsarbeiten, die sich die Stadt 1,9 Millionen Euro kosten ließ, ist das in einem 1714 errichteten Palais residierende Brüder Grimm-Museum wieder eröffnet worden. Der neue Eingang liegt nun auf der Gartenseite. Er führt zunächst in ein Nebengebäude für den Servicebereich. Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes wurden Räume für Sonderausstellungen hergerichtet. Die beiden Geschosse darüber beherbergen die von fünf auf zehn Räume erweiterte Dauerausstellung zu Leben, Werk und Wirkung von Jacob und Wilhelm Grimm sowie ihres "Malerbruders" Ludwig Emil (1790-1863).


Die Räumlichkeiten versetzen uns zurück in alte Zeiten. Dafür sorgen nach zeitgenössischen Vorbildern neu hergestellte Tapeten, vor allem aber die liebevolle Einrichtung mit Möbeln, Haushaltsgegenständen und Bildern aus dem Nachlass der Grimm-Schwester Lotte und von Ludwig Emil. Der Nachruhm des Maler und Grafikers beruht vor allem auf den Porträts, die er von seinen Brüdern sowie anderen Gelehrten und Dichtern wie Clemens Brentano und Heinrich Heine schuf. Zudem war er der erste Illustrator der "Kinder- und Hausmärchen".


Mit handschriftlichen Dokumenten, wertvollen Erstausgaben und zahlreichen neu erworbenen Exponaten werden Jacob und Wilhelm Grimm vorgestellt. Sie waren keineswegs sanftmütige Märchenonkel, sondern kantige Typen, wie ihr Biograf Steffen Martus urteilt. Er charakterisiert Jacob als einen, der offen und hart seine Meinung sagte. "Zugleich schätzte er das Schweigen." Wilhelm hingegen war ein beliebter Vortragskünstler, der die Geselligkeit schätzte, aber nachtragend sein konnte. Waren nach Wilhelms Heirat 1825 sein neues Familienleben und die alte brüderliche Gemeinschaft mit dem Junggesellen Jacob, der mit im Haushalt lebte, konfliktfrei vereinbar? Martus anwortet: "Ja, das funktionierte offenbar wirklich reibungslos. Dorothea Grimm kam mit ihren 'zwei Männern' sehr gut aus; Jacob war ein liebevoller 'Apapa', wie er als Onkel von den drei Kindern seines Bruders genannt wurde."


Die wissenschaftliche Karriere der später als Professoren an der Universität Göttingen und der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin tätigen Brüder begann 1806 in Kassel zur Zeit der napoleonischen Fremdherrschaft. Die gab Jacob und Wilhelm der Anstoß zur Suche nach den geistigen Grundlagen der deutschen Kultur. In der revolutionär traditionalistischen Besinnung auf die alten "germanischen" und jüngeren deutschen Sprachdenkmäler sahen sie die Voraussetzung zum Aufbau eines Nationalbewusstseins, das zur Gründung eines deutschen Einheitsstaates führen sollte. Zu den Früchten ihrer wissenschaftlichen Arbeit gehören 1812 als erste gemeinsame Publikation die Herausgabe der beiden ältesten deutschen Gedichte aus dem 8. Jahrhundert: Des Hildebrandsliedes und des Wessobrunner Gebets. Ein besonderer Schatz ist das ausgestellte persönliche Exemplar des ersten Bandes der von Jacob verfassten "Deutschen Grammatik" (1819), das er mit handschriftlichen Kommentaren versehen hat.


Über die wissenschaftliche Tätigkeit hinaus wurden die Brüder Grimm auch unmittelbar politisch aktiv. Nach der Niederlage Napoleons nahm Jacob als Diplomat 1815 am Wiener Kongreß teil und war 1848 Abgeordneter der Ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Als König Ernst August I. von Hannover vor 175 Jahren die Verfassung seines Reiches außer Kraft setzte, gehörten die Brüder Grimm zu den sieben Professoren, bekannt als die "Göttinger Sieben", die dagegen Protest einlegten - und aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Sie kehrten nach Kassel zurück und nahmen 1838 die Arbeit am "Deutschen Wörterbuch" auf, die sie ab 1841 in Berlin fortsetzten. Sie hatten zehn Jahre für die Arbeit daran veranschlagt. Doch bei ihrem Tod war das Werk erst von "A" bis "Frucht" gediehen. Zahlreiche Gelehrte führten das gigantische Projekt fort, das mit seinen 16 Bänden in 32 Teilbänden als eine der großartigsten Leistungen der europäischen Sprachwissenschaft gilt. Der letzte Band erschien 1971. Er endet mit dem Eintrag "Zypressenzweig".


Die ungeheure Popularität der Brüder Grimm bei Jung und Alt gründet aber auf "Aschenputtel", "Hänsel und Gretel", "Schneewittchen" und ihren anderen "Kinder- und Hausmärchen". Bernhard Lauer, der Leiter des Grimm-Museums, erklärt: "Neben der Luther-Bibel stellt die Grimmsche Märchensammlung das bekannteste und berühmteste deutsche Buch dar." Es wurde in 160 Sprachen übersetzt und hat weltweit eine Auflage von über einer Milliarde Exemplaren erreicht. Der erste Band mit 100 Märchen erschien 1812, der zweite, ebenfalls 100 Märchen umfassende Band wurde 1815 veröffentlicht. Die beiden so genannten "Handexemplare" der Kinder- und Hausmärchen, von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt, liegen als Allerheiligstes des Museums in einer Panzerglasvitrine. Lauer berichtet: "Die Bände enthalten zahlreiche handschriftliche Eintragungen, Verbesserungen und Quellenangaben beider Brüder. Auch kann man über die Handexemplare sehr schön die sprachliche und stilistische Arbeit an den Märchentexten verfolgen."


Im Erdgeschoss des Museums widmet sich die Sonderschau "Als das Wünschen noch geholfen hat" der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen, die dieses Jahr ihr 200. Veröffentlichungsjubiläum feiern. Zunächst wird belegt, dass die seit 1806 in Kassel und Umgebung Märchen sammelnden Brüder Grimm nicht die ersten waren, die volkstümliche Erzählungen nach schriftlichen und mündlichen Quellen aufzeichneten und bearbeiteten. Zum Aufgebot gehören neben der arabischen Sammlung "Tausend und eine Nacht" kostbare Erstausgaben wie "Die dreißig ergötzlichen Nächte" von Giambattista Straparola (1480-1558) und Charles Perraults ( 1628-1703) "Feenmärchen". Einer der deutschen Vorläufer der Grimms war Johann Carl August Musäus (1735-1787), der in fünf Bänden seine "Volksmärchen der Deutschen" veröffentlichte.


"Aber mit der Märchensammlung der Brüder Grimm begann die systematische Aufsammlung der 'Poesie des Volkes'", wie Lauer betont. Rund 50 Beiträger lassen sich nachweisen. Unter ihnen befanden sich viele Töchter aus gutem Hause, was doch das Grimmsche Etikett "Volkspoesie" stark relativiert. Präsentiert werden neben den von den Brüdern Grimm handschriftlich festgehaltenen Erzählungen "Dornröschen" und "Schneewittchen" frühe Auflagen der zweibändigen "Großen Ausgabe" und der einbändigen "Kleinen Ausgabe", die 50 Märchen enthält. Erst diese um sieben Illustrationen von Ludwig Emil Grimm bereicherte Kleine Ausgabe, ab 1825 angeboten, machte aus dem vormaligen Ladenhüter einen Kassenschlager. Bereits 1825 erschien in Stuttgart der erste Raubdruck mit handkolorierten Nachstichen der Illustrationen Ludwig Emil Grimms. Zahlreiche farbenfrohe Bilder zum "Froschkönig", auf den der Sonderausstellungstitel zurückgeht, zu "Aschenputtel", dem "Tapferen Schneiderlein", dem "Wolf und den sieben Geißlein" oder dem die Kleine Ausgabe beschließenden Märchen "Die Sterntaler" veranschaulichen im letzten Kapitel der Schau die internationale Illustrationsgeschichte von Grimms Märchen bis in unsere Tage.


Brüder Grimm-Museum, Schöne Aussicht 2, Kassel. Di.-So. 10-17 Uhr, Mi. 10-20 Uhr. Informationen: 9561-7872033, Internet: www.grimms.de. Die Sonderausstellung läuft bis zum 6. Mai 2012. Literatur: Bernhard Lauer: Die Brüder Grimm, Verlag des Brüder Grimm-Museums, 9,80 Euro. Steffen Martus: Die Brüder Grimm. Eine Biografie. Rowohlt Berlin Verlag, 26.90 Euro. Anna Gorgulla: Die "Kinder- und Hausmärchen" im pädagogischen und politischen Diskurs ihrer Zeit. Huttenscher Verlag fünfnullsieben, 30 Euro.


Text: Veit-Mario Thiede, Goethestraße 100, 34119 Kassel, Tel: 0171-3860734, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


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